So, hier nun mit dem Abstand einiger Tage (m)eine Berner Bar-Review. Hohe Erwartungen hatte ich eigentlich nicht - einwohnermäßig (gut 120.000) ist Bern sogar deutlich kleiner als Osnabrück, und hier ist nun wirklich "Bar-Diaspora". Andererseits, Bern ist "Bundesstadt" (böse Zungen sagen, "Bundesdorf"), de-facto-Hauptstadt und eines der kulturellen Zentren der Schweiz, und die Agglomeration um Bern (insgesamt ca. 300.000 Einwohner) spült Bern dann doch wieder in die Liga der Großstädte. Wenn auch eine beschauliche.
Der erste suchende Bar-Blick galt der Bellevue-Bar im
Bellevue Palace, neben dem
Schweizerhof eines der luxuriösen Grandhotels der Stadt, direkt neben dem Bundeshaus. Wie so oft in Hotelbars: in der Backbar stehen teure Cognacs, Whiskys, alles was irgendwie nach "Premium" aussieht, die
Karte finde ich jedoch gähnend langweilig. Die Cocktail-Preise - 16-18 CHF (ca. 13-15 €) - sind für Schweizer Verhältnisse nicht ungewöhnlich, haben mich aber angesichts der 08/15-Drinks mit zum Teil zweifelhaften Zutaten (Mai Tai: Bacarci Black & White, Curacao, Zitronensaft ...) trotzdem abgeschreckt. Ich hoffe, die Bartender können mehr, als diese Karte vermuten lässt - ausprobiert habe ich es nicht.
Immerhin, die freundlichen Mädels an der Rezeption wussten, wo man in Bern gut weggehen kann, und empfehlen einige Locations in der Altstadt, darunter die
Kornhaus Galerie Bar am Kornhausplatz (
Getränkekarte als PDF), den
Kreissaal und die
Abflug-Bar. Ich entscheide mich für letztere, eine gute Wahl, wie sich herausstellen wird.
Die
Abflugbar liegt in der Gerechtigkeitsgasse 50 - das ist die prächtige Hauptstraße in der Berner Altstadt, in der sich in den Arkaden der Bürgerhäuser vor allem kleine Geschäfte, in den Kellern darunter viele Restaurants und Kneipen befinden. Auch die Bar befindet sich in einem solchen Gewölbe, tagsüber ist die Treppe hinab hinter einer Holzluke verborgen. Unten empfängt den hinabsteigenden Gast ein gemütliches, dunkles Kellergewölbe. Ein einziger Raum, schummrig beleuchtet, eher junges Publikum fläzt sich auf großzügigen Lounge-Sofas, links die geschwungene Bar, an der zum Glück noch einige Hocker frei sind. Es ist Freitag Abend, der große Ansturm kommt erst noch. Entspannte, unaufdringliche Musik, ein Beamer projiziert Stummfilme aus der Frühzeit der Luftfahrt auf eine Leinwand, über der Bar eine schwarze Kreidetafel, die an die Abflugtafel eines Flughafenterminals erinnern soll und aktuelle Drink-Empfehlungen aufführt. Boulevardier, Pisco Sour, El Presidente - auch der Gin Basil Smash hat es bis nach Bern geschafft. Schaut schon mal gut aus (übrigens besser als die etwas langweilige Karte, die ich schnell beiseite lege).
Lukas, Betreiber und Geschäftsführer der erst 2009 eröffneten Abflug-Bar, steht an diesem Abend selbst am Brett und begrüßt jeden Neuankömmling herzlich. In der Backbar entdecke ich
Botanist Gin, den ich schon lange in einem
Dry Martini probieren wollte. Es ist ja immer ein Risiko, in einer "fremden" Bar diesen König der Cocktails zu bestellen, wie oft wird man enttäuscht! Der Drink im gekühlten Glas ist perfekt (Botanist Gin & Noilly Prat, Zitronenzeste), was für ein Start in den Abend. Ready for Takeoff! Lukas ist offenkundig Whiskey-Liebhaber und empfiehlt einen
Old Fashioned mit
Whipper Snapper Oregon Spirit Whisky (42%) und Fee Broth. Aromatic Bitters. Wow! Später etwas Fruchtiges, um mich herum werden Pisco Sours mit gemuddelten Trauben und einem hervorragenden, mir bisher unbekannten peruanischen (?) Pisco getrunken (dessen Name ich leider vergessen habe). Ich bekomme Lust auf einen
Blood & Sand. Lukas ist sich der Rezeptur nicht sicher - das PDT Cocktail Book kommt zum Vorschein. Zweites Wow, genau diese Mischung (etwas mehr Whiskey) mag ich. Der Orangensaft kommt frisch gepresst zum Ardbeg 10. Später probiere ich noch einen
Boulevardier (ca. 3 Teile
Blanton's, je 1 Teil Aperol und Carpano - noch ein Wow!) und genieße einen
Sazerac mit
High West Double Rye,
Kübler Absinthe 53% + Pechaud's. Geschmacklich toll, ein vorgefrostetes Glas (ohne Eis darin!) anstelle des Service mit wässrigem Würfeleises hätte ihn sogar perfekt gemacht. Mittlerweile ist es spät geworden, zu spät, um noch einer Einladung in den Kreissaal zu folgen, dessen Betreiber heute ausnahmsweise bei seinem Kollegen zu Gast ist. Beim nächsten Mal! Ein würziges Schweizer Flaschenbier bildet den Absacker.
Fazit: wenn ihr in Bern seid, ist die
Abflugbar der ideale Ort zum Ankommen und Abheben! Super freundliches, und auch im größten Trubel sehr aufmerksames Personal (das gelegentliche Glas Wasser zwischendurch kam z.B. ungefragt), entspannte Gäste, top Qualität bei den Zutaten, exzellente Auswahl vor allem amerikanischer Whiskeys, guter (N)espresso, angemessene Preise (ich zahlte um die 15 CHF pro Drink). Empfehlung!