Nach der Renaissance...

Old Sour

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Was einst als kraftvolle Gegenbewegung zur Verwässerung von Geschmack und Handwerk begann, ist heute vielerorts Mainstream.
Die Cocktail-Renaissance liegt hinter uns. Craft Bars, klare Eiskugeln, Vakuumdestillate, vergessene Klassiker – längst nicht mehr Avantgarde, sondern Alltag. Eingebürgert. Kommerzialisiert.

Aber was kommt nach dieser Renaissance?

Ein Artikel auf drinksint.com – „Cocktail Culture: After the Enlightenment“ – hat mich ins Grübeln gebracht. Er stellt nicht etwa den Niedergang der Barkultur fest, sondern eine Normalisierung: Die Cocktailkultur ist breiter geworden. Und mit dieser Breite wächst auch das Spektrum an Qualität, Anspruch und Tiefe.

Das klingt banal – und ist vielleicht gerade deshalb so wichtig.
Nicht jede Bar muss aussergewöhnlich sein. Manchmal reicht auch das solide Mittelmass.

Und das meine ich keineswegs abwertend. Im Gegenteil:
Nicht jedes Glas muss einen Aromenkrimi erzählen. Nicht jeder Drink muss eine obskure Referenz auf Harry Craddock oder Takashi Murakami sein.
Es gibt Tage – und Nächte – da tut ein gut gebauter, solider, vielleicht sogar „langweiliger“ Drink einfach gut.
Nichts prätentiöses, einfach ein passender Drink.

Was heute in der Barkultur entsteht, ist eine faszinierende neue Durchlässigkeit:

– Die ambitionierte Bar, die Martini Flights mit Zitronendestillat und einem Lächeln serviert – und ihre Gäste auf eine geschmackliche Entdeckungsreise mitnimmt.
– Die Kiezbar um die Ecke, die einen perfekt balancierten Negroni kann – und für die breitere Crowd auch einen populären mexikanischen Espresso Martini mixt.
– Die unkomplizierte Bar, die sich auf das Wesentliche konzentriert und einfach „einen guten Drink“ macht. Nichts weiter. Kein Chichi, keine Experimente – einfach Handwerk.

Ich finde: Das ist nicht nur okay. Das ist gut. Das ist wichtig.

Es muss Platz geben für das Aussergewöhnliche – und für das Zuverlässige. Für das Perfekte – und für das Genügende.
Diese Vielfalt ist ein Zeichen von Reife – nicht von Stagnation.

Ich selbst hatte kĂĽrzlich einen Moment, in dem mir das bewusst wurde:
Ein Abend in einer Bar, die keine grossen Wellen schlägt. Die Karte war überschaubar.
Null Schäumchen, kein Rotationsverdampfer hinter dem Tresen, keine Hintergrundgeschichten zu jedem Sirup.
Doch die Martini-Variation war eiskalt. Der Service war aufmerksam und freundlich.

Es war genau das, was ich an diesem Abend suchte.
Nicht mehr und nicht weniger! Und das war genau das richtige.
(Und, wie mir später in den Sinn kam: Hätte ich vor zwanzig Jahren denselben Drink serviert bekommen, hätte ich mir vor Freude den linken Arm ausgerissen...da sieht man, wie die eigenen Erwartungen eben auch eine grosse Rolle spielen.)

Vielleicht ist genau das die reife Phase einer Kultur:
Wenn sie nicht mehr beweisen muss, was sie kann – sondern einfach da ist.
 

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