Old Sour
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Ein Cocktail-Enthusiast wird geboren – meist nach dem ersten selbstgemachten Drink, der zufällig gelungen ist. Was folgt, ist eine Reise voller Glanz und Reue, gepflastert mit Sirupflaschen und hohem Selbstvertrauen. Es ist der Dunning-Kruger-Effekt in flüssiger Form. Es ist die Odyssee von der "Ich-kann-alles-Phase" bis zum demütigen "Es-gibt-noch-so-viel-zu-lernen".
Phase 1: "Ich bin basically Jerry Thomas in Cocktail"
Kompetenz: 5% | Selbstvertrauen: 95%
Alles beginnt harmlos. Man hat aus einer Flasche Carta Blanca einen Mojito gezaubert, der "nicht schlecht" war, und plötzlich ist man der Meinung, der Geist der Goldenen Ära der Bars sei in einem selbst wiederauferstanden. Der erste Einkauf im Getränkemarkt wird zum apokalyptischen Rausch:
- Blue Curaçao Sirup (weil blau)
- Grenadine (schön rot)
- Sahne (fĂĽr "cremige" Cocktails)
- Starter-Kit im Sonderangebot! bestehend aus einem dünnwandigen dreiteiligen Shaker, einem ultrakurzen Barlöffel und einem Jigger, der nur zum Verwechseln als Messbecher taugt.
- Kokosnuss (Karibik!)
- Maracuja-Sirup (klingt irgendwie exotisch...später stellt sich heraus, dass es sich um Sirup mit Maracuja-Aroma handelt, aber egal!)
- Ein Set mit 47 verschiedenen lustigen Cocktail-Stäbchen. Einige Glitzerpalmen sind auch dabei.
Die ersten Kreationen sind... sagen wir mal farbenfroh. Und süss. Der "Blue Lagoon Supreme" besteht aus Wodka Gorbatschow, Blue Curaçao, einem Schuss Grenadine "für den Sunset-Effekt" und wird stolz auf Instagram präsentiert. Die Freunde sind höflich begeistert.
Typische Aussagen:
- "Ich mache jetzt nur noch meine eigenen Cocktails!"
- "Bars sind Geldmacherei, das kann ich viel besser!"
- "Dieses Rezept habe ich selbst erfunden!" (Spoiler: Hat jeder schon mal gemacht)
Phase 2: "Okay, vielleicht brauche ich doch ein Cocktail-Buch"
Kompetenz: 15% | Selbstvertrauen: 60%
Die ersten Rückschläge machen sich bemerkbar. Der selbstkreierte "Rainbow Paradise" schmeckt verdächtig nach Hustensaft, und der letzte Besuch fragte vorsichtig, ob es auch Bier oder Wein gebe.
Nach dem ersten Hangover aus klebrigem Zucker und Alkohol wird klar: Da geht noch was. Ein Cocktail-Buch wird angeschafft. "Das wird gern genommen", gurrt die Verkäuferin, während sie ein Buch von Franz Brandl in die Tüte steckt. Plötzlich lernt man Begriffe wie "muddle", "strain" und "float". Die Erkenntnis dämmert: Es gibt tatsächlich Techniken! Wer hätte das gedacht?
Der Limettensaft kommt nicht mehr aus dem Plastikzäpfchen. Der Unterschied ist eine Offenbarung.
Motiviert stürzt man sich auf die Klassiker. Old Fashioned. Klingt edel. Drei Zutaten. Das krieg ich hin, denkt man. Also: Aus der Tanke einen Jim Beam, dazu einen Teelöffel Kristallzucker, drei Spritzer Angostura – und ein Schuss Leitungswasser zum „auflösen“.
Doch der Zucker denkt gar nicht daran, sich aufzulösen. Er klebt am Glasboden wie Sand auf nasser Haut. Man rührt, quetscht, rührt wieder. Redet sich ein, das gehöre so.
Im Gefrierfach, gleich hinter den Fischstäbchen, findet sich nach einigem Wühlen eine kleine Plastikform - vielleicht vergessen vom Vormieter. Ein einziges, milchiges Würfelchen ploppt traurig ins Glas. Obendrauf kommt noch eine "Original Maraschino"-Atomkirsche aus der Backabteilung, umrühren, fertig.
Der Fusel brennt die Kehle runter, der Zucker knirscht zwischen den Zähnen, irgendwo hängen bittere Schlieren im Mund. Trotzdem: das fühlt sich fast wie Fortschritt an.
Typische Aussagen:
„Frische Limette ist das A und O.“
- "Ich verwende nur noch original Angostura Bitters!"
- "Dieses Buch hat mein Cocktail-Game revolutioniert!"
Phase 3: "Moment mal... was ist eigentlich Chartreuse?"
Kompetenz: 35% | Selbstvertrauen: 30%
Statt besser wird es schlimmer. Man stösst auf Rezepte mit Zutaten, die man noch nie gehört hat und die nach alchemistischer Liturgie klingen: Chartreuse? Amaro Montenegro? Carpano Antica Formula? Maraschino (Betonung auf dem 'sch')? Die Cocktail-Welt öffnet sich wie ein Abgrund der Unwissenheit. Du begreifst: Das war bisher Kindergarten. Dann folgt der erste Besuch in einer wirklich guten Bar.
Die Bartenderin bereitet einen Negroni zu – aus drei Zutaten. Nach dem ersten Schluck wischst du dir die hervorquillende Träne diskret mit dem Handrücken weg. Die Demütigung ist vollständig. All das Zeugs zu Hause wirkt plötzlich wie Kinderspielzeug.
Die grosse Erkenntnis: Gute Cocktails brauchen weniger, aber bessere Zutaten. Die erste Sammlung an Basis-Spirituosen rutscht nach hinten, um Platz fĂĽr die "wirklich guten" Sachen zu machen.
Typische Erkenntnis:
"Weniger ist mehr."
"Ich brauche Carpano Antica."
Phase 4: "Ich verstehe gar nichts von Cocktails"
Kompetenz: 45% | Selbstvertrauen: 20%
Die Demut setzt ein. Jedes neue Cocktail-Buch offenbart weitere WissenslĂĽcken. Was ist der Unterschied zwischen London Dry und Plymouth Gin? Warum Rye Whiskey? Und wieso kostet eine Flasche Chartreuse 60 Euro?
Die Instagram-Posts werden seltener. Stattdessen wird mehr experimentiert – und öfter weggeschüttet. Freunde werden zu unwilligen Testern für zunehmend komplexere Kreationen.
Typische Aussagen:
- "Ich bin noch Anfänger..."
- "Das Rezept klang besser als es schmeckt..."
- "Vielleicht sollte ich einen Kurs machen..."
Phase 5: "Okay, ich verstehe ein bisschen was von Cocktails"
Kompetenz: 70% | Selbstvertrauen: 50%
Der Wendepunkt. Nach unzähligen Fehlschlägen und systematischem Lernen stellt sich echtes Können ein. Die Basics sitzen: Balance von süss, sauer, bitter. Die Zutaten sind sorgfältig ausgewählt. Die Nick&Nora Gläser poliert. Das einzige, was noch farbig ist, sind die Reiter im "Cocktail Codex" und im "Liquid Intelligence".
Die Hausbar sieht aus wie ein Labor. Auf der selbstgebauten Ablage in der KĂĽche warten neunzehn verschiedene Bitters. Der erste Twist auf einen Klassiker gelingt.
Der Blue Curaçao steht noch im Schrank – als Mahnung und gelegentlich für nostalgische Momente. Aber die Hausbar ist erwachsen geworden: Aus jeder Linie von Tanqueray mindestens eine Flasche, sechzehn verschiedene Bourbons (die meisten von Bekannten aus dem Duty-Free migebracht), ein Cocktail-Shaker, der wirklich funktioniert.
Der Wandel in den Drinks:
- Weniger ist mehr
- Balance statt Effekt
- Qualität statt Quantität
- Respekt vor klassischen Rezepten
Phase 6: "Es gibt noch so viel zu lernen"
Kompetenz: 85% | Selbstvertrauen: 80%
Echte Meister wissen: Je mehr man weiss, desto mehr erkennt man, was man nicht weiss. Regionale Variationen, historische Hintergründe, die Kunst des Garnierens, Pre-Batch, Infusionen, geklärte Milch-Punches, Fat-Washing, Essenzen, Rotationsverdampfer – die Cocktail-Welt ist unendlich.
Die Sirup-Sammlung existiert noch, aber jetzt selbstgemacht: Orgeat, Demerara, Grenadine aus echtem Granatapfelsaft. Der Kreis schliesst sich – aber auf einem völlig anderen Niveau.
Heute, Jahre später, steht die Flasche Blue Curaçao noch im Schrank. Nicht mehr als Symbol jugendlicher Unwissenheit, sondern als Erinnerung an die Freude des Anfangs. Denn am Ende ist das vielleicht das Wichtigste: Die Begeisterung zu bewahren, auch wenn das Wissen wächst.
Und manchmal, nur manchmal, wenn die richtige Stimmung herrscht und die Nostalgie zuschlägt, wird doch noch ein Blue Lagoon gemixt. Aber diesmal mit frischem Limettensaft, ordentlichem Wodka und der Erkenntnis, dass auch schlechte Cocktails ihre Zeit und ihren Platz.
Cheers auf alle Cocktail-Enthusiasten in jeder Phase ihrer Reise – möget ihr nie aufhören zu experimentieren, auch wenn eure Gäste manchmal leiden müssen.
Phase 1: "Ich bin basically Jerry Thomas in Cocktail"
Kompetenz: 5% | Selbstvertrauen: 95%
Alles beginnt harmlos. Man hat aus einer Flasche Carta Blanca einen Mojito gezaubert, der "nicht schlecht" war, und plötzlich ist man der Meinung, der Geist der Goldenen Ära der Bars sei in einem selbst wiederauferstanden. Der erste Einkauf im Getränkemarkt wird zum apokalyptischen Rausch:
- Blue Curaçao Sirup (weil blau)
- Grenadine (schön rot)
- Sahne (fĂĽr "cremige" Cocktails)
- Starter-Kit im Sonderangebot! bestehend aus einem dünnwandigen dreiteiligen Shaker, einem ultrakurzen Barlöffel und einem Jigger, der nur zum Verwechseln als Messbecher taugt.
- Kokosnuss (Karibik!)
- Maracuja-Sirup (klingt irgendwie exotisch...später stellt sich heraus, dass es sich um Sirup mit Maracuja-Aroma handelt, aber egal!)
- Ein Set mit 47 verschiedenen lustigen Cocktail-Stäbchen. Einige Glitzerpalmen sind auch dabei.
Die ersten Kreationen sind... sagen wir mal farbenfroh. Und süss. Der "Blue Lagoon Supreme" besteht aus Wodka Gorbatschow, Blue Curaçao, einem Schuss Grenadine "für den Sunset-Effekt" und wird stolz auf Instagram präsentiert. Die Freunde sind höflich begeistert.
Typische Aussagen:
- "Ich mache jetzt nur noch meine eigenen Cocktails!"
- "Bars sind Geldmacherei, das kann ich viel besser!"
- "Dieses Rezept habe ich selbst erfunden!" (Spoiler: Hat jeder schon mal gemacht)
Phase 2: "Okay, vielleicht brauche ich doch ein Cocktail-Buch"
Kompetenz: 15% | Selbstvertrauen: 60%
Die ersten Rückschläge machen sich bemerkbar. Der selbstkreierte "Rainbow Paradise" schmeckt verdächtig nach Hustensaft, und der letzte Besuch fragte vorsichtig, ob es auch Bier oder Wein gebe.
Nach dem ersten Hangover aus klebrigem Zucker und Alkohol wird klar: Da geht noch was. Ein Cocktail-Buch wird angeschafft. "Das wird gern genommen", gurrt die Verkäuferin, während sie ein Buch von Franz Brandl in die Tüte steckt. Plötzlich lernt man Begriffe wie "muddle", "strain" und "float". Die Erkenntnis dämmert: Es gibt tatsächlich Techniken! Wer hätte das gedacht?
Der Limettensaft kommt nicht mehr aus dem Plastikzäpfchen. Der Unterschied ist eine Offenbarung.
Motiviert stürzt man sich auf die Klassiker. Old Fashioned. Klingt edel. Drei Zutaten. Das krieg ich hin, denkt man. Also: Aus der Tanke einen Jim Beam, dazu einen Teelöffel Kristallzucker, drei Spritzer Angostura – und ein Schuss Leitungswasser zum „auflösen“.
Doch der Zucker denkt gar nicht daran, sich aufzulösen. Er klebt am Glasboden wie Sand auf nasser Haut. Man rührt, quetscht, rührt wieder. Redet sich ein, das gehöre so.
Im Gefrierfach, gleich hinter den Fischstäbchen, findet sich nach einigem Wühlen eine kleine Plastikform - vielleicht vergessen vom Vormieter. Ein einziges, milchiges Würfelchen ploppt traurig ins Glas. Obendrauf kommt noch eine "Original Maraschino"-Atomkirsche aus der Backabteilung, umrühren, fertig.
Der Fusel brennt die Kehle runter, der Zucker knirscht zwischen den Zähnen, irgendwo hängen bittere Schlieren im Mund. Trotzdem: das fühlt sich fast wie Fortschritt an.
Typische Aussagen:
„Frische Limette ist das A und O.“
- "Ich verwende nur noch original Angostura Bitters!"
- "Dieses Buch hat mein Cocktail-Game revolutioniert!"
Phase 3: "Moment mal... was ist eigentlich Chartreuse?"
Kompetenz: 35% | Selbstvertrauen: 30%
Statt besser wird es schlimmer. Man stösst auf Rezepte mit Zutaten, die man noch nie gehört hat und die nach alchemistischer Liturgie klingen: Chartreuse? Amaro Montenegro? Carpano Antica Formula? Maraschino (Betonung auf dem 'sch')? Die Cocktail-Welt öffnet sich wie ein Abgrund der Unwissenheit. Du begreifst: Das war bisher Kindergarten. Dann folgt der erste Besuch in einer wirklich guten Bar.
Die Bartenderin bereitet einen Negroni zu – aus drei Zutaten. Nach dem ersten Schluck wischst du dir die hervorquillende Träne diskret mit dem Handrücken weg. Die Demütigung ist vollständig. All das Zeugs zu Hause wirkt plötzlich wie Kinderspielzeug.
Die grosse Erkenntnis: Gute Cocktails brauchen weniger, aber bessere Zutaten. Die erste Sammlung an Basis-Spirituosen rutscht nach hinten, um Platz fĂĽr die "wirklich guten" Sachen zu machen.
Typische Erkenntnis:
"Weniger ist mehr."
"Ich brauche Carpano Antica."
Phase 4: "Ich verstehe gar nichts von Cocktails"
Kompetenz: 45% | Selbstvertrauen: 20%
Die Demut setzt ein. Jedes neue Cocktail-Buch offenbart weitere WissenslĂĽcken. Was ist der Unterschied zwischen London Dry und Plymouth Gin? Warum Rye Whiskey? Und wieso kostet eine Flasche Chartreuse 60 Euro?
Die Instagram-Posts werden seltener. Stattdessen wird mehr experimentiert – und öfter weggeschüttet. Freunde werden zu unwilligen Testern für zunehmend komplexere Kreationen.
Typische Aussagen:
- "Ich bin noch Anfänger..."
- "Das Rezept klang besser als es schmeckt..."
- "Vielleicht sollte ich einen Kurs machen..."
Phase 5: "Okay, ich verstehe ein bisschen was von Cocktails"
Kompetenz: 70% | Selbstvertrauen: 50%
Der Wendepunkt. Nach unzähligen Fehlschlägen und systematischem Lernen stellt sich echtes Können ein. Die Basics sitzen: Balance von süss, sauer, bitter. Die Zutaten sind sorgfältig ausgewählt. Die Nick&Nora Gläser poliert. Das einzige, was noch farbig ist, sind die Reiter im "Cocktail Codex" und im "Liquid Intelligence".
Die Hausbar sieht aus wie ein Labor. Auf der selbstgebauten Ablage in der KĂĽche warten neunzehn verschiedene Bitters. Der erste Twist auf einen Klassiker gelingt.
Der Blue Curaçao steht noch im Schrank – als Mahnung und gelegentlich für nostalgische Momente. Aber die Hausbar ist erwachsen geworden: Aus jeder Linie von Tanqueray mindestens eine Flasche, sechzehn verschiedene Bourbons (die meisten von Bekannten aus dem Duty-Free migebracht), ein Cocktail-Shaker, der wirklich funktioniert.
Der Wandel in den Drinks:
- Weniger ist mehr
- Balance statt Effekt
- Qualität statt Quantität
- Respekt vor klassischen Rezepten
Phase 6: "Es gibt noch so viel zu lernen"
Kompetenz: 85% | Selbstvertrauen: 80%
Echte Meister wissen: Je mehr man weiss, desto mehr erkennt man, was man nicht weiss. Regionale Variationen, historische Hintergründe, die Kunst des Garnierens, Pre-Batch, Infusionen, geklärte Milch-Punches, Fat-Washing, Essenzen, Rotationsverdampfer – die Cocktail-Welt ist unendlich.
Die Sirup-Sammlung existiert noch, aber jetzt selbstgemacht: Orgeat, Demerara, Grenadine aus echtem Granatapfelsaft. Der Kreis schliesst sich – aber auf einem völlig anderen Niveau.
Heute, Jahre später, steht die Flasche Blue Curaçao noch im Schrank. Nicht mehr als Symbol jugendlicher Unwissenheit, sondern als Erinnerung an die Freude des Anfangs. Denn am Ende ist das vielleicht das Wichtigste: Die Begeisterung zu bewahren, auch wenn das Wissen wächst.
Und manchmal, nur manchmal, wenn die richtige Stimmung herrscht und die Nostalgie zuschlägt, wird doch noch ein Blue Lagoon gemixt. Aber diesmal mit frischem Limettensaft, ordentlichem Wodka und der Erkenntnis, dass auch schlechte Cocktails ihre Zeit und ihren Platz.
Cheers auf alle Cocktail-Enthusiasten in jeder Phase ihrer Reise – möget ihr nie aufhören zu experimentieren, auch wenn eure Gäste manchmal leiden müssen.
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