Kleiner historischer Leitfaden - eine Perspektive unter anderen

Old Sour

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Nach all der Geschichte, den Rezepturen und der Entwicklung der Klassiker stellt sich frĂŒher oder spĂ€ter eine andere, ganz persönliche Frage:
Was bedeutet mir ein Drink?

Gerade am Anfang verfÀllt man leicht in eine fast dogmatische Haltung:
Mir schmeckt nur, was richtig ist! Ein Old Fashioned darf nur auf eine Weise zubereitet werden – alles andere ist Blasphemie! Geshaked wird ausschließlich mit zwei metallenen Bechern, gerĂŒhrt nur mit einem silbernen Spirallöffel, in Uhrzeigersinn! Und wer Harry Craddocks Drink auf Seite 274 unten rechts nicht kennt, ist ein Banause!

Aber – ist das wirklich der Kern der Sache?

Wenn man die historische Brille einmal abnimmt, öffnen sich neue Perspektiven.
Vielleicht lassen sich Cocktails nicht nur nach ihrer kanonischen Reinheit – meist entwickelt von einer vergangenen Generation – ordnen, sondern auch nach persönlichem Gusto (!), nach der verwendeten Spirituose, nach dem Aroma – fruchtig, herb, sĂŒss, floral – oder nach Tageszeit, Anlass, Stimmung.

Denn worum geht es letztlich?

Geht es um das GetrĂ€nk selbst – um Technik, Wirkung, Geschmack?
Oder geht es um den Moment – das Ankommen, das Verweilen, das GesprĂ€ch?

Vielleicht ist der Cocktail manchmal nur Medium, nicht Botschaft.
Die Bar nicht nur ein Ort der Zubereitung, sondern ein Raum der Begegnung.

Am Ende steht der Mensch im Mittelpunkt.
Der Mensch hinter der Bar – mit Leidenschaft, Handwerk, Intuition.
Der Mensch vor der Bar – als Gast, als GesprĂ€chspartner, als Begleiter.

So wird die Bar zum menschlichen Miteinander – und der Drink zum verbindenden Element.

Dann wird klar:
Es ist wichtiger, dass man ankommt.
Dass man da ist.

Ob ein Cocktail „korrekt“ zubereitet wurde, verblasst immer mehr, wird zur Nebensache.

Wichtiger ist, dass er passt – nicht ins Rezeptbuch, sondern ins Leben.
 
Zuletzt bearbeitet:
Dass der Mensch im Mittelpunkt der Cocktailkultur steht wĂŒrde ich anzweifeln - denn "Cocktail" war schon immer auch ein gutes stĂŒckweit dem Trend untergeordnet sowie dem gesellschaftlichen Zeitgeist. Nimmt man den Aperol Spritz oder den Wildberry Lillet - dann kommt noch pures Marketing mit dazu - Trends werden heute "produziert" - ob bei Tiktok oder Insta oder in den Bars, bezahlt von denen die davon profitieren. Es gewinnt der, der den Trend in seiner Zielgruppe setzen kann - meiner Meinung nach.
 
Danke fĂŒr deinen zutreffenden Einwand, du hast absolut recht:
NatĂŒrlich ist Cocktailkultur nicht frei von Kommerz und Marketing. Gerade in der Heute werden Drinks nicht nur gemixt, sondern vermarktet, inszeniert, und manchmal sogar gezielt „erfunden“, um Zielgruppen zu erschliessen. Da geht es oft weniger um Geschmack als um Bildsprache, Lifestyle-Versprechen oder um's Dazugehören.

In dieser Hinsicht "gewinnt" tatsÀchlich der, der einen Trend setzt oder ihm folgt. Das war vielleicht schon damals mit Blue Curaçao so, ist heute aber sicher noch viel durchsichtiger.

Und doch: Trotz aller Trends, trotz aller OberflÀchenmechanismen bleibt da ein menschlicher Kern, der Wunsch nach Begegnung, nach AtmosphÀre, nach einem Moment, der bleibt. Der Bartender, der nicht nur funktioniert, sondern wirklich "da" ist. Der Gast, der nicht nur bestellt, sondern ankommt.

Das ist vielleicht eine Erinnerung an das, was auch möglich ist. Und was viele von uns, wenn sie ehrlich sind, auch schon erlebt haben: Ein Cocktail, der in einem Moment genau "richtig" war, ganz unabhÀngig von irgendwelchen Trends, Marketing, Insta-Hits.

Aber ist das schon alles?

Wer je (allein) am Tresen sass spĂ€t am Abend, mit einem Drink in der Hand, weiss: Vielleicht geht’s nicht darum, ob man "in" ist. Sondern ob der Drink passt. Zum Tag. Zum Menschen. Zu mir. Zum Jetzt.

Dann wird die Bar zum Begegnungsraum.
Der Bartender zum Gastgeber. Der Drink zum Medium.

Und plötzlich zÀhlt nicht mehr das Produkt. Sondern das Dazwischen.

Vielleicht ist das eine romantische Sicht. Vielleicht sogar ein bisschen idealistisch.
Aber wer weiss? Vielleicht liegt gerade darin ihr Wert:
Dass sie uns erinnert, was möglich wÀre. Wenn wir wollen.
 
Ja, die Erinnerungen an den Moment in Kombination mit dem 🍾 Cocktail - sind frei von Kommerz. Ich habe oft das GefĂŒhl, dass der Cocktail nur ein Assescoire ist - nicht weil er schmeckt, sondern weil es ins Bild oder zum Moment / Umfeld / Anlass passt - ĂŒberspitzt gesagt, trinkt keiner einen Tiki in einer Whiskybar und niemand einen Sour zum Stehempfang - denke das macht gut 90% des Konsums aus - der Rest sind Individualisten. Der Bartender macht seinen Job und ist trainiert darauf sich nicht zu verquatschen 😉 - in einer Canabis-Runde im Coffee-Shop verspĂŒrt man mehr m.E. Zwischenmenschliches - selbst im sĂŒdlĂ€ndischen Teehaus geht es oft geselliger zu - als am Bartresen. Der Cocktail als GetrĂ€nk und Bindeglied in der Kommunikation ist m.E. nicht mehr "der" Quarant von damals - durch gesellschaftlichen Wandel und neue Trends und auch durch die VerdrĂ€ngung von alkoholischen GetrĂ€nken per se.
 
Dein Einwand ist scharf und provoziert – und du hast recht, dass viele Facetten der Cocktailkultur genau so funktionieren, wie du es beschreibst. Dass ein Drink oft eher ein Accessoire ist, das zum Bild oder Anlass passen muss, und dass die Interaktion mit dem Bartender nicht immer tiefgrĂŒndig ist, ist eine unbestreitbare RealitĂ€t. Und ja, vielleicht sind wir, die das Zwischenmenschliche oder den Cocktail um des Cocktail willens suchen, in der Minderheit, wenn man den reinen Konsum betrachtet.

Aber gilt das nicht auch fĂŒr jede Art von Gegenstand? Ein gutes Buch liegt vielleicht nur auf wenigen Nachttischen, doch fĂŒr diese Wenigen ist es von unschĂ€tzbarem Wert. Eine wertvolle Kunst kann in ihrem Wert nicht vom Massengeschmack abhĂ€ngen und es sind wenige, die den nicht-materiellen Wert wirklich zu schĂ€tzen wissen.

Ich glaube, das 'Zwischenmenschliche' am Bartresen ist vielleicht subtiler als in einer Cannabissession oder einem Teehaus. Es muss nicht immer die große Konversation sein. Manchmal ist es das aufmerksame Nachfragen, ob der Drink passt, die Geste, die zeigt, dass man wahrgenommen wird, oder das leise VerstĂ€ndnis in einem Blick, wenn man alleine da sitzt. Es sind die Barkeeper, die nicht nur 'funktionieren', sondern wirklich 'da' sind und einen Raum schaffen, in dem man sich willkommen fĂŒhlt – und die gibt es. Sie sind vielleicht keine lauten Entertainer, aber sie sind Gastgeber im besten Sinne.

Mein Punkt ist nicht, dass jede Bar ein Ort tiefer Begegnung ist oder dass jeder Drink eine Offenbarung sein muss. Es geht darum, dass die Möglichkeit dazu existiert. Es geht um die Momente, in denen der Drink eben nicht nur ein Accessoire ist, sondern das verbindende Element fĂŒr eine echte Erfahrung, sei es mit einem anderen Menschen oder mit sich selbst.

Vielleicht sind das genau die Individualisten, von denen du sprichst. Jene, denen es nicht (oder nicht nur) um den marketinggetriebenen Kontext geht. Sondern um etwas Tieferes. Um das eine verbindende Moment – das Element der Schönheit, das auch in einem Drink schlummern kann. Und dieses seelenvolle Element, das sieht eben nicht jeder.
Aber die, die es sehen – sie kommen wieder.
 

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